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urbanize! 2019
»Alle Tage Wohnungsfrage«
urbanize! widmet sich in seiner zehnten Ausgabe der Wohnungsfrage als gesellschaftlich ebenso brandaktuelles wie für die Stadtforschung zentrales Thema.
Das Jubiläumsjahr »100 Jahre Rotes Wien« nimmt urbanize! zum Anlass, die soziale, ökologische, ökonomische und politische Dimension des Wohnens zu beleuchten und dabei nach (konkreten) Wohn-Utopien der Gegenwart zu fragen: Wie wollen wir wohnen? Und wie miteinander leben? Was heißt eigentlich leistbar? Wieviel Klima steckt im Wohnbau? Baut Wohnen Stadt? Wer gewinnt im globalen Wohnopoly? Treibt uns die Wohnungsfrage auf die Barrikaden? Wohin ist die Solidarität verräumt? Wie lebt es sich ohne Wohnraum? Welche Wohnmodelle braucht die Zukunft? Wie viel Utopie steckt in der Wohnungsfrage?
Die Bedeutung, die das Wohnen im alltäglichen urbanen Leben einnimmt, beweisen Bezeichnungen wie »Einwohner« oder »Bewohnerin«. Es sind die allgemeinsten Bezeichnungen für in der Stadt lebende Menschen und verweisen weder auf Herkunft noch Klasse. Wohnen ist nicht nur eine Bedingung für das Alltagsleben, sondern ganz grundsätzlich für die Gesellschaft, da es konkrete tägliche Praktiken mit abstrakten sozialen Verhältnissen verknüpft.
©urbanize! / s-e-r.atWohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Wir alle müssen wohnen. So alltäglich und gewöhnlich Wohnen ist, so vielfältig und komplex sind seine gesellschaftlichen Implikationen. Wohnformen sind mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen unauflöslich verbunden und dadurch geprägt. Das reicht von den feudal und patriarchal geprägten Zeiten, in denen Bauer und Knecht sowie Handwerker und Geselle unter einem Dach lebten, über das kernfamiliäre Massenwohnen der Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert bis zu den Gated Communities und der Warenförmigkeit des Wohnens in der neoliberalen Gegenwart. Die Wohnungsfrage berührt Fragen der Ökonomie und Politik, der Ökologie und Nachhaltigkeit, der Architektur und Soziologie gleichermaßen.
In den europäischen Städten geht mittlerweile die Angst um: Ausgelöst durch eine profitorientierte Immobilienwirtschaft, in der Wohnraum in erster Linie der Vermehrung von Vermögen dient statt der Existenzsicherung, gerät das Menschenrecht auf Wohnen in Gefahr. Steigende Mieten verdrängen weniger finanzstarke Stadtbewohner*innen, und Eigentum beschleunigt die gesellschaftliche Ungleichverteilung. Der prekäre Wohnungsmarkt trägt zur allgemeinen Verunsicherung bei, die auch demokratiepolitische Folgen zeigt.
Wien gilt dank seines sozialen Wohnbaus, der im »Roten Wien« vor 100 Jahren seinen Anfang genommen hat, als internationales Vorzeigemodell. Doch auch in Wien gerät bezahlbares Wohnen immer stärker unter Druck. Längst wird mehr frei finanzierter Wohnbau errichtet, als geförderter Wohnraum mit bezahlbaren Mieten geschaffen wird. Mit der neuen Flächenwidmungskategorie »Geförderter Wohnbau« will die Stadt nun gegen steuern - den Erfolg werden wir in den nächsten Jahren messen können.
Die Wiederkehr der Wohnungsfrage zeigt sich im Jubiläumsjahr »100 Jahre Rotes Wien« als drängende gesellschaftliche Aufgabe und konkrete Herausforderung für alle Bewohner und Bewohnerinnen – mit weit gestreuter Expertise zwischen alltäglicher Praxis, Planung, Politik und Wissenschaft. Dabei entstehen derzeit weltweit Alternativen zu »Wohnen als Ware«: In Theorie und Praxis erkunden Menschen gerechte Bodenpolitiken, kollektive Wohnformen, klimafreundliche Bauweisen, nachbarschaftliche Sharing-Modelle oder alternative Finanzierungssysteme – mit der Wiederkehr der Wohnungsfrage feiert auch die »Utopie Wohnen« eine facettenreiche Auferstehung.
urbanize! widmet sich mit dem 10. Jubiläumsprogramm »Alle Tage Wohnungsfrage« dem Wohnen aus der Perspektive von Architektur und Stadtplanung, Politik und Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie – und fahndet dabei nach konkreten Utopien fürs Wohnen der Gegenwart und Zukunft.
urbanize! Ein Festival als Stadtlabor
10 Veranstaltungen an 10 Tagen, gedacht als Jubiläumsreihe anlässlich des 10jährigen Bestehens von dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, standen am Anfang von urbanize! und seinen urbanen Erkundungen. Seitdem sind schon wieder 10 unglaubliche und spannende Jahre vergangen. Das Festival hat nicht nur in Wien, sondern auch in Hamburg (2016) und Berlin (2018) Expert*innen des urbanen Alltags, Wissenschaft, Kunst, Politik, Verwaltung und Aktivismus zu Austausch und Diskussion rund um die vielen virulenten Fragestellungen zur Gegenwart und Zukunft der Stadt versammelt. Und es hat sich vervierfacht: Sowohl was die Anzahl der Veranstaltungen als auch was die Besucher*innen betrifft.
Die Idee, die vielfältigen Blickwinkel auf die Stadt als Œuvre (Henri Lefebvre), als alltägliches Werk ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, aus der Welt der akademischen Beschäftigung in den realen Raum der Stadt zu übertragen, bleibt Motor und Ausgangspunkt für die jährliche Programmierung des Festivals. Augenhöhe, Teilhabe, Barriere-Abbau zwischen Expert*innen am Podium und Expert*innen im Publikum und das Schaffen von Räumen für Austausch und Kennenlernen, in denen gemeinsam gedacht, gelacht, gestritten und gefeiert werden kann, ist ein zentrales Anliegen. Dafür bedient sich urbanize! einer Vielzahl an Formaten aus Wissenschaft, Kunst und Alltag: Ausstellungen und künstlerische Aktionen, Stadterkundungen zu Fuß und mit dem Rad, Performances und Interventionen im öffentlichen Raum, Workshops und Vorträge, Diskussionen und Vernetzungs-Foren, Film und Musik. Die Methode des situationistischen dérive, des sich Treibenlassens und Abschweifens, ist Impulsgeberin für das Festival als Forschungsreise durch Disziplinen, Themen, Formate und Orte. Ziel von urbanize! war und ist Menschen zusammen zu bringen, sie zu ermächtigen, zu irritieren und zu stimulieren – zu einem vielschichtigen Denken und Handeln auf dem Weg zu einer Stadt für alle.
© deriveEin urbanize! Festival besteht immer aus der Hardware der Veranstaltungen und der Software des sozialen Raumes, der Gespräche, des Austausches und der Interaktion. Die Veranstaltungen sind bis auf wenige, rar gesäte Ausnahmen kostenfrei zu besuchen und die gesamte Dramaturgie trachtet danach, einen möglichst offenen und demokratischen Raum zu schaffen. Das Festival will unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Menschen miteinander in Beziehung bringen, weil es mit Jane Jacobs daran glaubt, dass die Stadt nur dann Chancen für alle bietet, wenn sie auch von allen gemacht wird.
Wenn die Rechnung aufgeht, erzeugt urbanize! als temporäres Stadtlabor einen Raum der produktiven Verunsicherung und des utopischen Überschuss, einen Raum der Aneignung und eine Bühne für Vorstellungen einer möglichen anderen Welt und einer gerechteren und lebenswerten Stadt.
Die Nachwirkungen sind ebenso vielfältig wie für uns Festivalmacher*innen nicht messbar. Sie arbeiten sich äußerst selten zu uns durch und treten nur manchmal greifbar in Erscheinung. Etwa wenn die Post eine Urban Graphic Novel bringt mit einer Dankeskarte für die Inspiration. Manchmal werden uns Abschlussarbeiten zugesandt, die sich um das Recht auf Stadt drehen, mit Verweis auf urbanize! als Ideengeberin. Immer wieder bekommen wir Besuch von Kurator*innen und Stadtmacher*innen aus anderen europäischen Städten, die sich mit uns austauschen möchten, um in ihrer Stadt ähnliches ins Leben zu rufen. Oder wir erfahren zufällig, dass sich Festivalgäste bei urbanize! kennen gelernt haben, um Jahre später gemeinsam Kunst- und Forschungsprojekte zu realisieren. Am öftesten aber gibt es Feedback an der Festival-Bar, wo weiter diskutiert und reflektiert wird.
urbanize! ist ein Reallabor des Denkens, das 2019 zum 10. Mal Fragen in den Raum wirft, um gemeinsam Antworten in Theorie und Praxis zu finden. Es ist unser Beitrag zur Selbstermächtigung und Selbstorganisierung und damit zu einer lebendigen und demokratischen Stadtgesellschaft. Schon immer hat das Festival ein Ausrufezeichen im Titel getragen als Aufforderung sich einzumischen, einzugreifen, einzufordern und zu gestalten: urbanize! urbanisieren sie sich!
© deriveurbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen wird seit 2010 von dérive - Verein für Stadtforschung in Wien, Berlin (2018) und Hamburg (2016) veranstaltet. Der Verein ist auch Herausgeber von dérive - Zeitschrift für kritische Stadtforschung und produziert mit Radio dérive einen monatlichen Podcast zur Stadt.
Festivalpartnerin Social Design – Arts as Urban Innovation
Das Social Design Studio an der Angewandten
Wer Social Design studiert, vertritt das deklarierte Interesse, kritisch und aktiv auf die Gesellschaft einzuwirken, eigene Handlungsspielräume zu erproben und einsetzen zu wollen, kurzum: nicht auf Zukunft zu verzichten.
Ort wie Inhalt der Forschungen sind Theorien und Praxisformen der Stadt, sind die urbanen Realitäten, aus denen die Studierenden kommen, und deren gleichsam muttersprachliche Kenntnis sie als Denk- und Erfahrungssysteme teilen und im Lauf des Studiums als Grammatik ausformulieren. Wer sich für Social Design entscheidet, soll Städte oder Prozesse der Urbanisierung in ihrer Veränderlichkeit und gleichsam als Organismen begreifen, die selbst auf feinste Akupunkturen reagieren. Dieses universitäre Angebot begreift sich auch als Katalysator universitärer Arbeit, kommt doch einer Universität immer eine wesentlich gesellschaftspolitische Verantwortung und Aufgabe zu, manifestiert sie sich doch exemplarisch als Ort wie Inhalt urbaner Verdichtung.
Der Standort Wien wird zum exemplarischen Inhalt wie Ausgangspunkt der Untersuchungen. So bildet die Stadt mit ihren historischen Projekten zum sozialen Wohnbau, die international noch immer als vorbildlich wahrgenommen werden, ein lebendiges Forschungsfeld. Durch das schnelle Wachstum der Stadt ist hier auch aktuell spürbar, was es bedeutet, wenn die Zweimillionengrenze in wenigen Jahren überschritten sein wird, mit allen damit verbundenen Maßnahmen, Überlegungen und auch Schwierigkeiten, mehr Wohnraum zu schaffen, die Stadt zu verdichten, zu regulieren und dabei die historischen Ideale zur „Wohnungsfrage“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser Prozess eröffnet für das Masterprogramm zugleich konkrete Möglichkeiten der Ideenfindung und Gestaltung.
Social Design an der Angewandten agiert in den Zwischenräumen, jenen, die sich auftun zwischen gebauten Strukturen, außerhalb gewohnter Ausstellungsräume und in Handlungsräumen, in denen Akteure und Akteurinnen fehlen oder stumm bleiben.